18. November 2012

Lieblingsmensch an Lieblingsplatz

Im Grunde muss man nur zwei Dinge richtig zusammenbekommen. Wie in der Mathematik. Aufgabe ist gelöst, wenn links dasselbe steht wie rechts neben dem Gleichheitszeichen. Oder wenn das Ergebnis in eine andere Gleichung wunderbar hineinpasst und alles im Gleichgewicht sein wird.

Ich wollte ihre langen roten Haare unbedingt am Strand meine Lieblingsinsel sehen.

Im Wind. Im Sonnenschein. An Tagen ohne Verpflichtungen. In Momenten ohne Worte. Mit dabei, als Gleichheitszeichen quasi, mein Fotoapparat und meine Aufmerksamkeit, den Hintergrund verschwimmen zu lassen. Mein Lieblingsmensch braucht keine Nachbearbeitung. Alle Bilder werden gelungen sein.

In der näheren Umgebung werden sie meine Anstrengungen bemerken. Zweifellos. Die Menschen um mich herum werden das sehen, was man gemeinhin als „Aufblühen“ bezeichnet. Ich bringe mich kurz davor, Mensch und Ort vereint zu haben. 
Aber es gilt, weiter zu denken - der Lieblingsmensch am Lieblingsplatz. Ist denn auch die Zeit so weit? Oder anders gefragt: wenn die Gleichung, die Aufgabe gelöst ist, was folgt als nächstes?

In meiner Weltanschauung ist das Glück eine Gleichung von Ort, Zeit und Raum und die Menschen in diesem Gefüge als Vektoren. Es ist wie in der Mathematik, ganz einfach. Ist die Aufgabe gelöst, dann folgt der nächste Komplex an Aufgaben. Das Konstante im Leben ist nicht Weiterentwicklung und Beibehaltung aller Parameter, sondern die Beibehaltung der Methoden, die Aufgaben anzugehen und ständigem Wechsel der Parameter.

Kommt am Ende nur Scheiße dabei raus, dann waren die Methoden für den Arsch.

Machen wir es uns einfacher: ist die Aufgabe gelöst muss man schon den nächsten Schritt gehen. Unsäglich. Krampfhaft. Alle Versuche, die Zeit anhalten zu wollen. Dafür gibt es doch immer wieder neue Tage.
Und nach diesen Tagen auf meiner Lieblingsinsel? Ich werde mir die Fotos anschauen. Werde mich nochmal und nochmal und nochmal verlieben.


Ich werde schon einen Weg finden. Ihn festzuhalten. Meinen Lieblingsmenschen an meinem Lieblingsplatz.

15. November 2012

Der Raub der Europa

Sie war die Verkörperung. Nackt. Europa musste nackt sein.

„Man will heute einfach viel nackte Haut sehen. Warum sonst sollen die Menschen noch ins Theater gehen?“

So auf die Schnelle hatte Maria darauf keine passende Antwort. Genauso wie damals. Vor fast zwei Jahren. Sie spielte die Titelrolle in einer Brecht-Inszenierung des Stücks „Die Gewehre der Frau Carrar“. Es ist egal, welches Ensemble, welche Stadt. Auch der Name des Regisseurs - nennen wir ihn „N.“ - ist egal. Wichtig zu wissen ist nur, dass er sie regelmäßig vergewaltigt hat. Ja das hat er. Auch, wenn er das vermutlich bestreitet hätte. Er gehörte zu den Männern, die den Übergang von Dominanz und Gewalt als fließend erachteten. Vergewaltigung ganz real, aber auch im übertragenen Sinne. Vielleicht war sie deswegen so gut. Der Wunsch, davonzulaufen und es nicht zu können, gab ihr Kraft. Die Kritiker liebten sie, nicht ihn. Auf lange Sicht schien das ihr Triumph zu sein. Sie legt alles in ihre Titelrolle hinein.

Sie habe es nicht besser verdient. Maria, Sie - die Schauspielerin, sie, die jetzt in dem Stück „Der Raub der Europa“ die Titelrolle spielt.

Das Stück, geschrieben von einer jungen aufstrebenden Autorin (sie hatte ein ganz offizielles Verhältnis mit dem Regisseur), verknüpft die griechische Mythologie gekonnt - aber vom Text her etwas langatmig - mit den zeitgenössischen Krisen.

„Diese Krise ist eine Krise Europas.“ So lautete einer der Schlüsselsätze.

Die Autorin hatte in jedem Fall Heiner Müller gelesen. Staccato-Dialoge. Wie in der „Hamletmaschine“ -  Ja, die Kulturschaffenden sind in den Krisen in einem Sumpf der vielsagenden Metaphern angekommen. Jetzt muss ein namhafter Regisseur diese Metaphern ordnen. Dazu braucht es nackte Haut. Dazu gehört, dass der Regisseur Europa fickt.

Maria, die Schauspielerin machte gute Miene zum bösen Spiel. Denn er hatte sie in der Hand. Wenn die Welt erfahren würde, wer sie wirklich war, dann wäre ihr Leben nichts mehr wert gewesen. „Du hast kein Talent, aber Deine Situation zwingt Dich doch dazu, eine Schauspielerin zu sein. Jeden Tag.“

Sie lebte unter falschem Namen und ihr Engagement in dem Ensemble sicherte ihren Lebensunterhalt. Dazu kamen die sexuellen Gefälligkeiten. Sie ertrug dies. Denn das Publikum liebte sie. Nicht selten hatte sie die umwerfenden Kritiken dem Regisseur vorgehalten. „Die Hauptdarstellerin famos - die Inszenierung fad. Warum macht N. nicht mehr aus seiner großen Perle?“ - So in etwa stellte es der wohl wichtigste Theaterkritiker der Region dar.

Das Stück „Der Raub der Europa“ war das erste Stück der Nachwuchsautorin. Es war eigentlich ein schlechtes Stück. Die drei Kinder von Europa und Zeus seien die Grundpfeiler der Ordnung einer Gesellschaft, die sich über das Einzelne erhebe. Die Autorin interpretiert und erweitert die griechische Mythologie dabei nach Gutdünken - im Zentrum steht jeweils der Zeugungsakt dieser Kinder. Zuvor muss sie den zweifelnden Zeus überzeugen und sich ihm anbieten. Die drei Abstraktionen „Stärke“, „Standhaftigkeit“ und „Rechtschaffenheit“ entstammten also diesem Stück nach dem Schoß der Europa. In einem Schlussakkord stirbt Europa, die Tugenden jedoch bleiben erhalten. Das Leitmotiv ist also die Anbiederung des Weibes an Männlichkeit in Form von Macht. Das Verderben ist dabei unausweichlich.

Europa muss nackt sein. Europa ist die Hure großer gelebter Lügen.

Es waren Zeiten, in denen das Subtile der Offensichtlichkeit weichen sollte. Am Ende des ersten Aktes etwa, gleichzeitig der Beginn des ersten Zeugungsaktes, stellt Europa bei Zeus seine Männlichkeit in den Vordergrund. Sie selbst gibt sich lasziv und verdorben. 41x taucht das F-Wort in dem Stück auf. Dies in Theaterkritiken zu kritisieren, war zu dieser Zeit nicht statthaft. Jeder Theatermacher, der etwas auf sich hielt, verwendete dieses Wort inflationär. Und nur ab einer gewissen Frequenz konnte der Macher sich gewiss sein, eine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Skandale? Nein, Skandale waren nur noch möglich, wenn man die ganz großen Kaliber auspackte. Antisemitismus, Kinderschändertum, Religion oder alles zusammen. Aber Skandale zu erzeugen, galt als billig. Ein Theater, ein gutes Schauspiel, braucht keine Skandale. Und man bedenke - Europa verkörpert sich in ordinären Banalitäten und gebiert nach Außen hin die Tugenden. Dazu die Europa nackt. Das reicht.

Maria und Europa. Die Schauspielerin und ihre Rolle. Der mächtigste Gegensatz, der nur durch die Unterwerfung einer Regie zu bändigen war. 1978 hatte man sie verhaftet. Man konnte ihr nur Mitgliedschaft und Mitwissertum bei der Bewegung 2. Juni vorwerfen. Der Regisseur verschaffte ihr - die unter anderem Namen und unter inoffiziellen Kronzeugen-Privilegien auf freien Fuß gekommen war - eine Arbeit im Theater. Das war Grundvoraussetzung. Er hatte Beziehungen zum Verfassungsschutz. Ihr Gesicht war nicht markant. Die vielen Varianten der Fahndungsplakate machten es unmöglich, sie mit ihr in Verbindung zu bringen. Ihre Identität war nicht. Existierte nicht. So legte sie alles in Europa hinein. Darin war sie richtig gut. Erst als „Frau Carrar“, dann als Europa - welch´ sinnbildlichste Metamorphose!

„Ich führe Dich zu der Größe, die Du Dir erträumt hast.“, sagte er nach der Vorstellung in der Umkleidekabine und fasste sie an. Sie ließ ihn gewähren und dachte bei sich: „Wenn Du wüsstest, was ich mir erträume, dann wäre ich nicht so gut in dem, was ich spiele.“

Neben dem fabulösen Körper der Akteurin war es die schauspielerische Leistung selbiger, die zum Ruhm des Theatermachers beitrug. Das war ihm bewusst. Nach jedem erzwungenen Akt der beiden in der Umkleidekabine blieb er schwitzend zurück. Beleibt, träge, sich nach jeder Vorstellung, nach jeder Kritik immer mehr den Konfrontationen mit den Kritikern ausgesetzt. Maria besiegte ihn, weil Europa immer größer wurde. Er könne froh sein, solch eine Schauspielerin zu haben. Es werde Zeit, sie mit einem neuen Stück in Szene zu setzen, schrieben die Kritiker.

Nach der 48. Vorstellung des Stücks „Der Raub der Europa“ starb der Theaterregisseur „N.“ in der Umkleidekabine seiner Protagonistin. Man schrieb das Jahr 1983. Herzinfarkt mit Mitte vierzig. Er hatte extrem viel geraucht.

Man kennt ihn heute nicht mehr. Diesen Regisseur. Vor allem, weil seine Protagonistin nie wieder eine Bühne betreten hat. Dieses Theaterstück wurde nie wieder aufgeführt. Es ist Vergangenheit. Das Damals ist das Heute. Maria ist heute Hausfrau in Vorpommern.


Die Krise ist eine Krise Europas.